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Europas PNT in Gefahr: Warum russische GNSS-Störungen eine strategische Bedrohung für kritische Infrastrukturen darstellen

  • Autorenbild: Bridge Connect
    Bridge Connect
  • 25. Juli
  • 5 Min. Lesezeit

Einleitung: Ein Schattenkrieg, den Sie nicht sehen können

In einer zunehmend digitalisierten und vernetzten Welt sind die Satellitensignale, die alles von der Flugzeugnavigation bis hin zu zeitgestempelten Finanztransaktionen ermöglichen, bedroht. Europäische Länder – insbesondere jene in der Nähe Russlands – erleben einen stillen Angriff in Form von GNSS-Störungen und -Spoofing (Globales Navigationssatellitensystem). Diese Taktiken sind nicht nur lästig; sie sind Teil einer gezielten hybriden Kriegsstrategie, die die zivile Luftfahrt, die Schifffahrt, die Telekommunikation und die nationale Sicherheit untergräbt.

Während Raketen und Panzer die Schlagzeilen beherrschen, führt Russland eine subtilere, aber ebenso wirksame Kampagne mit elektronischer Kriegsführung. Laut öffentlichen Tracking-Plattformen wie GPSJam.org haben die Störfälle in den Jahren 2024 und 2025, insbesondere in der Ostsee- und Schwarzmeerregion, dramatisch zugenommen. Dabei handelt es sich nicht um isolierte Anomalien – sie treten immer wieder auf, nehmen zu und sind auf bodengestützte Störsender in Kaliningrad, auf der Krim und auf dem russischen Festland zurückzuführen.

In diesem Blog wird erläutert, warum Europa anfällig ist, wie GNSS-Störungen funktionieren und welche Auswirkungen dies auf Regierungen, Betreiber kritischer Infrastrukturen und die Öffentlichkeit hat.


Warum GNSS wichtig ist

GNSS – darunter GPS (USA), Galileo (EU), GLONASS (Russland) und BeiDou (China) – bilden die unsichtbare Infrastruktur der modernen Gesellschaft. Die meisten zivilen und militärischen Anwendungen basieren auf Positions-, Navigations- und Zeitdaten (PNT), die von diesen Systemen abgeleitet werden.

In Europa ist GNSS unverzichtbar für:

  • Flugnavigation und Landeverfahren

  • Maritime Routenplanung und Kollisionsvermeidung

  • Notfalldienste und Einsatzkoordination

  • Stromnetzsynchronisation

  • Telekommunikation und 5G-Zeitstempel

  • Bankgeschäfte und Handelssysteme

  • Logistik und Lieferkettenbetrieb

Trotz dieser Abhängigkeit sind GNSS-Signale grundsätzlich schwach – sie werden von Satelliten in 20.000 Kilometern Entfernung gesendet und erreichen die Erde mit weniger als einem Milliardstel Watt Leistung. Diese Fragilität macht sie mit kostengünstiger, tragbarer Ausrüstung leicht zu stören. Schlimmer noch: Die meisten zivilen GNSS-Signale sind unverschlüsselt und daher anfällig für Spoofing (gefälschte Signale, die Empfänger irreführen sollen).


Europas geografisches Risiko russischer Störsender

Der europäische Kontinent ist aufgrund seiner Nähe zu mehreren russischen Territorien und geopolitischen Krisenherden besonders gefährdet. In mehreren Gebieten kam es wiederholt zu GNSS-Verweigerungsaktionen:

1. Ostseeraum (Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen)

Kaliningrad – Russlands stark militarisierte Exklave zwischen Polen und Litauen – beherbergt hochentwickelte elektronische Kampfsysteme wie das R-330Zh „Zhitel“ und das Krasukha-4. Diese Systeme können GNSS, Militärradar und Satellitenkommunikation über Hunderte von Kilometern stören.

  • Im Juni 2025 wurden in Litauen nach Angaben des litauischen Verkehrsministeriums über 1.000 GNSS-Störungen registriert, im Juni 2024 waren es lediglich 46. [1]

  • Flugzeuge, die von und nach Vilnius, Riga und Helsinki fliegen, melden regelmäßig eine verschlechterte GPS-Leistung und müssen auf eine Trägheitsnavigation als Backup umsteigen oder ihre Route vollständig ändern.

  • Auch in der polnischen Danziger Bucht kommt es regelmäßig zu Störungen, die auf Emissionen aus Kaliningrad und Weißrussland zurückzuführen sind [2].

2. Schwarzmeerregion (Rumänien, Bulgarien, östliches Mittelmeer)

Störungen auf und um die Krim und in den von Russland besetzten Gebieten beeinträchtigen die GNSS-Zuverlässigkeit für Schifffahrtswege, Drohnen und sogar NATO-Überwachungsflugzeuge, die in der Nähe der Sperrzonen operieren.

3. Polarkreis und Hoher Norden

Norwegen und Finnland haben wiederholte GNSS-Verschlechterungen während Militärübungen wie Cold Response und Trident Juncture gemeldet , die sowohl die zivile Luftfahrt als auch die Truppenbewegungen der Alliierten beeinträchtigten.

Diese Zonen entwickeln sich de facto zu elektronischen Pufferzonen – Gebiete, in denen der Zugang zu GNSS-Systemen gezielt verweigert wird, um die Überwachung durch die NATO zu verhindern und die Belastbarkeit europäischer Systeme zu testen.


Die Mechanismen von Jamming und Spoofing

GNSS-Störungen treten typischerweise in zwei Formen auf:

Störgeräusche

  • Überfordert GNSS-Empfänger mit stärkeren Funksignalen auf derselben Frequenz.

  • Führt zu einem vollständigen Signalverlust und zwingt Flugzeuge und Schiffe, auf Nicht-GNSS-Systeme zurückzugreifen.

  • Kann lokal (z. B. innerhalb einer Flughafenzone) oder regional (über 300–500 km) sein.

Spoofing

  • Sendet gefälschte GNSS-Signale, um einen Empfänger dazu zu verleiten, eine falsche Position oder Zeit zu melden.

  • Anspruchsvoller und schwieriger zu erkennen als Störsender.

  • Wurde bei mehreren Vorfällen eingesetzt, bei denen Schiffe im östlichen Mittelmeer und zivile Flugzeuge in der Nähe von Konfliktgebieten betroffen waren.

Einem Bericht der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) aus dem Jahr 2023 zufolge wurden im gesamten Luftraum der EU innerhalb von 12 Monaten über 4.500 GNSS-Ausfälle registriert, wobei sich die Zahl der Ausfälle in der Nähe der Grenzen zu Russland und Weißrussland deutlich konzentrierte [3].


GNSS-Verweigerung als Mittel der hybriden Kriegsführung

Störsender sind kein isoliertes technisches Problem, sondern eine strategische Waffe. Russland nutzt GNSS-Störungen in Zusammenarbeit mit:

  • Desinformationskampagnen

  • Cyberangriffe (z. B. auf Energie- oder Schienennetze)

  • Physische Sabotage (z. B. Durchtrennen von Unterseekabeln oder Angriffe auf die Infrastruktur)

  • Grauzoneneinfälle (z. B. Drohnenschwärme, Grenzprovokationen)

Diese Reihe nicht-kinetischer Instrumente ist Teil der russischen Gerassimow-Doktrin – einer Militärstrategie, die konventionelle, asymmetrische und psychologische Taktiken kombiniert, um Gegner zu destabilisieren, ohne die Schwelle zum offenen Krieg zu überschreiten.

In diesem Rahmen ist die Ablehnung von GNSS ideal: abstreitbar, technisch plausibel und schwer eindeutig zuzuordnen.

Im April 2025 reichten 17 EU-Mitgliedstaaten unter Führung Lettlands ein formelles Schreiben an den Europäischen Rat ein, in dem sie koordinierte Maßnahmen gegen GNSS-Störungen forderten, darunter mögliche Sanktionen und den Entzug der von Russland und Weißrussland im Rahmen der ITU gehaltenen Funkfrequenzrechte [4].


Auswirkungen auf die Sicherheit der Zivilluftfahrt und des Seeverkehrs

Der Luftfahrtsektor ist besonders anfällig:

  • März 2024: Ein Finnair A320 über der Ostsee erlitt einen kompletten GPS-Ausfall. Die Besatzung griff auf Trägheitsunterstützung zurück und landete sicher. Die Flugsicherung bestätigte jedoch, dass es sich um einen von über 300 ähnlichen Vorfällen in diesem Monat handelte.

  • Mai 2025: Lufthansa und Ryanair leiteten Flüge, die in Estland landen sollten, aufgrund einer anhaltenden Verschlechterung des GPS-Signals um. Die EASA gab Betriebswarnungen an alle kommerziellen Fluggesellschaften heraus, die das Baltikum überfliegen.

Piloten, die sich traditionell auf satellitengestützte Navigation für GNSS-RNP-Anflüge (Required Navigation Performance) verlassen, werden zunehmend darauf trainiert, auf VOR/DME und andere terrestrische Navigationshilfen zurückzugreifen. Dies wirft jedoch umfassendere Fragen auf: Wie viele moderne Besatzungen haben die Zeit und Erfahrung, mit „Rohdaten“ zu fliegen? Werden die Bodennavigationshilfen auf einem brauchbaren Niveau gehalten?

Der maritime Sektor ist mit ähnlichen Risiken konfrontiert:

  • Schiffe, die den Ärmelkanal, den Skagerrak und das Schwarze Meer durchqueren, haben aufgrund von Spoofing Positionsanomalien gemeldet, die manchmal mehrere Kilometer vom Kurs abwichen.

  • AIS-Meldungen (Automatic Identification System) gaben gelegentlich falsche GPS-Positionen wieder, was in geschäftigen Häfen wie Rotterdam und Konstanza zu Sicherheitsbedenken führte.


Telekommunikation, Energie und kritische Infrastruktur

Telekommunikations- und Energienetze sind auf hochpräzise Zeitsignale angewiesen, die aus GNSS gewonnen werden:

  • 5G-Basisstationen benötigen für Handover und Signalintegrität eine Synchronisierung im Submikrosekundenbereich.

  • Stromnetze benötigen synchronisierte Phasenmessungen, um die Last auszugleichen und Stromausfälle zu vermeiden.

Eine GNSS-Störung von nur wenigen Sekunden Dauer kann Folgendes zur Folge haben:

  • Verursacht Übergabefehler in Mobilfunknetzen und beeinträchtigt Notrufe.

  • Führt zu Datenbeschädigungen in SCADA-Systemen und Zeitreihendatenbanken.

  • Verursacht Spannungsinstabilitäten in regionalen Stromnetzen, wenn die Synchronzeiger nicht mehr ausgerichtet sind.

Mehrere Betreiber in Osteuropa haben den Einsatz robuster PNT-Systeme mit Atomuhren, glasfaserverteilter Zeitsteuerung oder Backup-Konstellationen im erdnahen Orbit (LEO) beschleunigt. Die Kosten sind jedoch hoch und die Implementierung uneinheitlich.


Regulatorische und institutionelle blinde Flecken

Trotz zunehmender Vorfälle wird die GNSS-Sicherheitslücke in den meisten nationalen Sicherheitsstrategien der EU nach wie vor nicht ausreichend berücksichtigt.

Die britische Strategie für Positionierung, Navigation und Zeitmessung (PNT) 2023 war eine der ersten, die den Bedarf an terrestrischen Backup-Systemen wie eLORAN ausdrücklich anerkannte. Doch selbst hier ist die Einführung begrenzt und wird durch Finanzierungsengpässe und behördenübergreifende Zuständigkeiten erschwert.

Im Gegensatz dazu haben die USA per Präsidialerlass Bundesbehörden dazu verpflichtet, die GNSS-Abhängigkeit zu bewerten und APNT-Systeme (Assured PNT) zu entwickeln. In Europa fehlt ein vergleichbarer Rahmen.

Erst seit Kurzem betrachtet die EU die GNSS-Verweigerung nicht nur als ein Problem der Luft- und Seefahrt. Doch angesichts der sich verschärfenden geopolitischen Lage muss sich dies zu einer gesamtgesellschaftlichen Resilienzplanung entwickeln.


Fazit: Der Anfang vom Ende für ungeschütztes GNSS?

Russlands GNSS-Störkampagne ist ein Weckruf. Jahrzehntelang operierten GNSS-Systeme in einem permissiven Raum – man ging davon aus, dass sie aufgrund ihrer Komplexität und globalen Reichweite immun gegen Störungen seien. Diese Annahme trifft nicht mehr zu.

Während Europa in eine neue Ära strategischer Konfrontation mit Russland – und möglicherweise auch anderen Akteuren – eintritt, werden Störungen des GNSS-Netzes zum Standard der Bedrohungslage. Der nächste Blogbeitrag dieser Reihe untersucht die Reaktion der baltischen und nordischen Länder und zeigt, welche Lehren sich daraus für den Rest des Kontinents ergeben.

Regierungen, Infrastrukturbetreiber, Telekommunikationsanbieter und die Luftfahrtbranche müssen nun nach einer einfachen Prämisse handeln:

Die Widerstandsfähigkeit der PNT ist nicht länger optional – sie ist ein nationales Gebot.

Quellen

 
 

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